Holocaust-Gedenktag 2018
Während des Zweiten Weltkriegs lebten in Łódź, damals von den neuen deutschen Machthabern in „Litzmannstadt“ umbenannt, deutsche, polnische und jüdische Menschen. Mitten in der Stadt errichteten die deutschen Machthaber das zweitgrößte Ghetto auf polnischem Boden, ein abgetrennter Stadtteil, in den sie 200 000 Juden zusammengepfercht einsperrten. Dem Leiden und Hungern der gefangenen jüdischen Menschen konnten die Passagiere durch den Maschendrahtzaun zusehen, wenn sie mit der Straßenbahn Nummer 41 mitten durch das Ghetto fuhren.
Nathan Grossman, 1927 wird als Sohn des Schusters Avram im polnischen Schtetl Zgierz geboren, 10 km von Lodz entfernt. 1940 kommt er ins Ghetto und ist einer der weniger als 10.000 Überlebenden. 1942 wird sein19-jähriger Bruder im Vernichtungslager Chelmno ermordet, ein paar Monate später sein Vater tot geschlagen und in einem Massengrab begraben. Die Mutter stirbt im selben Jahr den Hungertod, das Essen reichte nicht für zwei. Er lebt als 15-Jähriger bis August 1944 alleine im Ghetto und zieht sich im Winter schwere Erfrierungen zu. Er arbeitet in der Schmiede. Das Ghetto wird liquidiert, und er kommt mit einem Transport nach Auschwitz-Birkenau. Das hat ihm im Gegensatz zu seinem Bruder das Leben gerettet. Von dort wird er nämlich in das KZ-Außenlager Vechelde (Niedersachsen) als Zwangsarbeiter in einer Metallfabrik in Braunschweig deportiert. Nach dem Todesmarsch im März 1945 wird er in Ludwigslust, am 2. Mai durch US-Truppen befreit.
Nach dem Krieg lebt er in einem Kibbuz in Israel. Jahrelang verdrängt Natan Grossmann seine Erinnerungen an die Zeit der Gefangenschaft. Der Wille zu vergessen ist so groß, dass er sogar vermeidet, die Umstände des Todes seiner Eltern und das Schicksal seines Bruders zu ergründen. Wegen seiner Erfrierungen hat er aber gesundheitliche Beschwerden, und sucht trotz der von Deutschen erfahrenen Drangsale 1959 in München einen Spezialisten auf. Dort verliebt er sich in eine Deutsche, was er als die „beste Wiedergutmachung Deutschlands“ bezeichnet. Erst spät beginnt er die Suche und die emotionale Konfrontation mit der Vergangenheit. Er versucht vor Ort in Polen die Wahrheit über den Verbleib seines Bruders zu erfahren. Das weckt Erinnerungen auch an die Eltern, sich selbst und das Leben und Sterben im Ghetto. Er erlebt bekannte Orte und menschliche Begegnungen, die er niemals für möglich gehalten hätte.
Der Film zeigt auch, wie Jens-Jürgen Ventzki, Jahrgang 1944, in Łódź das dunkle Familiengeheimnis um seinen Vater Werner Ventzki zu ergründen versucht. Dieser war Nazi-Oberbürgermeister von Litzmannstadt, - damals Zentrum der deutschen Germanisierungpolitik -, der Verdrängungs- und Vernichtungspolitik gegen Juden und Polen. Sein Sohn begibt sich auf die belastende Suche nach den Spuren der Taten und Motive seines Vaters, eines glühenden ranghohen Nationalsozialisten. Er bricht damit das lange Schweigen und Verdrängen seiner Familie und kommt als Täterkind zu dem Schluss, dass sein Vater, der sich nach dem Krieg als liebevoller Vater erwies, ein Verbrecher gewesen war. Er hatte die Morde mit organisiert. Er war verantwortlich für die Zustände im Ghetto – und wohl indirekt auch für den Tod der Eltern Grossmanns. Der Holocaust-Überlebende wird also von dem Sohn des Nazi-Täters nach Auschwitz begleitet. So treffen sich Opfer und Täterkind auf der Suche nach der Wahrheit und bezeichnen sich nach ihrer Begegnung heute als "Freunde". Beide fühlen sich verpflichtet, als Zeitzeugen ihre Erkenntnisse weiter zu geben, in Schulen zu gehen, und ihre Geschichten zu erzählen.
Auf die Frage einer jungen Zuhörerin, wie sich die heutige junge Generation gegenüber dieser Geschichte verhalten solle, verweist Grossmann darauf, dass nur die Wahrheit eine Wiederholung solcher Verbrechen verhindere. Das sei auch seine Motivation als Zeitzeuge. Die heutige Generation solle keine Schuld fühlen, aber Verantwortung für die Zukunft. Auch die damalige deutsche Jugend sei in dem mörderischen Krieg als Soldaten auch Opfer der "Bestien", wie er die Nazis bezeichnete, geworden. Für die von diesen aufgehetzten Deutschen zeigt er sogar ein gewisses Verständnis. Für die Juden aber sei die Gründung eines eigenen Staates die Lösung und die Konsequenz der fast 2000-jährigen Verfolgung gewesen. (emy)